M.H.-J.: Innerhalb der letzten Monate änderte sich die Situation vieler Mitarbeiter drastisch. Von Tag zu Tag wurden wir gezwungen, von Zuhause zu arbeiten. Es wurde bereits viel darüber gesagt, wie man sich im Homeoffice organisieren sollte, Experten äußerten sich weit und breit zu Vor- und Nachteilen der Telearbeit. Inzwischen stellen wir uns in unserem Team immer öfter die Frage, welche Bedürfnisse bei der Arbeit befriedigt werden. Ich meine hier natürlich die Arbeit im Büro, wo wir uns täglich mit anderen Kollegen treffen.
Daria Jezierska-Geburczyk: Die Antwort auf diese Frage könnte sehr lang und komplex sein. Ich fange damit an, dass Deine Intuition, in Bezug auf den alltäglichen Kontakt mit Kollegen, bestimmt gerecht ist. Wir bauen und vertiefen Beziehungen mit ihnen durch viele Gespräche, zufällige Treffen während der Kaffeepause, als Folge des gemeinsamen Zeitverbringens, was viel einfacher im Büro ist, anstatt während eines vereinbarten „Calls“. Solche Art von Beziehungen können mit der Zeit zu einer Quelle von Unterstützung, Sicherheits- und Zugehörigkeitsgefühl werden. Laut Gallups Bericht „Women in Amercia“ aus dem Jahr 2016 sei die gesellschaftliche Arbeitszeit ein Hauptgrund dafür, dass Frauen arbeitstätig seien – und das mit größerem Einsatz. Scott Galloway geht einen Schritt weiter. Er meint, die Gruppe, die sich am stärksten nach einer Rückkehr ins Büro sehnen, seien jüngere Menschen, da für sie das Schließen von Freundschaften und die Suche nach Lebenspartnern in einer kollektiven Arbeitsumgebung möglich sei. Was ich weiterhin bei den Personen beobachte, die bereits einen stabilen Lebensstil führen, ist, dass das Büro eine Grenze darstellt, durch die man aus der Rolle der Mutter/des Vaters in die Mitarbeiterrolle hineintritt. Und umgekehrt. „Das Verlassen eines Büros“ trennt deutlich das Privat- vom Berufsleben, was einige Menschen stark benötigen. Von einer anderen Perspektive auf die Zukunft der Arbeit her – und in Bezug auf unser Gespräch können wir sagen, dass auf die Bürozukunft Carl Frey schaut, ein Forscher aus Oxford. In einem seiner letzten Interviews wies er auf den Zusammenhang zwischen dem Einkommensniveau und Erfolg ferngesteuerter Arbeit hin. Je höher das Einkommen einer Person, desto bessere Lebensverhältnisse herrschen für die Online-Arbeit. Und umgekehrt – je niedriger das Einkommen, desto schwieriger die Lebensverhältnisse und, leider, „viel netter“, das Haus zu verlassen. Zum Beispiel um ins Büro zu gehen. Im Sinne gesellschaftlicher Diskrepanzen, kann man Deine Frage komplett umformulieren: Welche Bedürfnisse ließ den Menschen eine Arbeitsstelle befriedigen?
M.H.-J.: Kann man all die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die Du genannt hast, durch ferngesteuerte Arbeit realisieren? Bei Zoom können wir uns doch mit Kolleginnen und Kollegen treffen.
D.J.-G.: Es ist schwieriger, aber bestimmt nicht unmöglich. Seit Jahren gibt es Untersuchungen zur Online-Arbeit und Prozesse zum Gründen von virtuellen Teams. Es werden Lösungen ausgearbeitet. Forscher denken vor Allem darüber nach, wie man die sogenannte shared identity (wörtlich – geteilte Identität) und shared understanding (wörtlich – geteiltes Verstehen) stärken kann. Shared identity gibt einem das Gefühl, dass man als Teil eines Teams, als Teil des Ganzen wahrgenommen wird. Das Gefühl der Einheit mit dem Team, der Identifikation mit gemeinsamen Zielen kann nachlassen, wenn man online arbeitet – komplett getrennt, wenn man sich nur ein paar Minuten am Tag sieht und sich dann später auf die eigenen Pflichten konzentriert. Shared understanding hingegen ist ein Verständnisgefühl zwischen Teammitgliedern für gegenseitiges Benehmen, eine Art von Beziehungs- und Nachsichtstransparenz. Es geht hier nicht nur um gegenseitiges Verstehen in Bezug auf die Arbeitsaufteilung, sondern auch um private Situationen. Das Fehlen beider Elemente kann zum Verlust von Vertrauensgefühl und zur Zunahme von Gruppenkonflikten führen. In diesem neuen, ferngesteuerten Arbeitskontext werden besondere Erfordernisse, Manager-Kreativität und Teamoffenheit gebraucht. Aber es ist möglich.
M.H.-J.: Wozu dann ein Büro? Stellt die Büroarbeit Deiner Meinung nach einen nicht überschätzbaren Wert dar?
D.J.-G.: Die Vorstellung eines Büros und dessen Rolle kann individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen werden. Sehr interessant! Eine Frage, die wir alle berücksichtigen sollten: Was bedeutet das Büro für mich? Womit assoziiere ich es? Was bedeutet das Wort an sich für mich? Ich habe die Möglichkeit, seit einem Jahr vom Zuhause zu arbeiten und auch wenn ich diese Zeit sehr zu schätzen weiß, fehlt mir etwas Raum, der nur für mich vorgesehen ist, nur für die Arbeit. Aus meiner Perspektive kann sich die Rolle des Büros auf einen Ort beschränken, wo ich mit meinen Gedanken sein kann, wo es wenige Ablenkung gibt, und wenn es doch Ablenkungen gibt, dann solche, die zum Nachdenken anregen, zum Handeln zwingen. Für mich ist ein Büro in erster Linie ein Raum für Konzentration, in zweiter Linie ein Raum zum Handeln, zur Realisierung von Aufgaben. Wenn ich wiederum über Arbeit im „Open Space“ oder im Rahmen des „Co-workings“ nachdenke, wird ein solches Büro andere Funktionalitäten realisieren, andere Domänen unterstützen und im Endeffekt andere Assoziationen und Antworten auf gestellte Fragen hervorrufen.
M.H.-J.: Viele von uns haben sehr schnell das Büro vermisst. Was fehlt uns eigentlich? Das Büro, die Leute? Wie siehst Du das?
D.J.-G.: Einige vermissen den Rhythmus und die Routine, weil „aus dem Haus rauszugehen“ den Tag organisiert. Du weißt schon, um wie viel Uhr Du aufstehen musst, was Du normalerwise machst, um rechtzeitig auf der Arbeit anzukommen. Ich habe von einigen Leuten gehört, dass sie den Weg zur Arbeit vermissen. Die Reisen am Morgen und Nachmittag mit öffentlichen Verkehrsmitteln war eine gebuchte Zeit für sie, um ein Buch zu lesen oder einen Podcast zu hören. Wie ich vorhin erwähnt habe, fehlt den anderen eine klare Grenze zwischen Privat- und Berufsleben, die symbolisch eine Büroschwelle sichert. In diesem Sinne ist somit eine physische Fläche wichtig, die vermisst wird. Jemand anders sagt, er vermisse die Atmosphäre, die sozialen Kontakte, Kaffeegespräche oder Lunch mit den Kollegen. Dann fehlt einem etwas mehr, als nur die sprichwörtlichen „vier Wände“. Was interessant ist: Viele dieser Bedürfnisse lassen sich Zuhause befriedigen und die Menschen versuchen diesen nachzugehen. Es fordert auf jeden Fall Flexibilität, viel Kreativität und Selbstdisziplin. Vielleicht vermissen wir einfach die vergangene Zeit? Unsere Gewohnheiten? Frühere Verhaltensmuster?
M.H.-J.: Was ist dann wirklich wichtig für die Leute bei der Arbeit?
D.J.-G.: Das ist hier die Kernfrage. Ich ermutige zuerst zu einer individuellen Reflexion: warum arbeitest Du? Was ist für Dich wichtig bei der Arbeit?
Die amerikanische Psychologin Amy Wrzesniewski, die sich mit dem Arbeitsverstehen auseinandersetzt, würde auf drei potenzielle Antworten zu den oben gestellten Fragen hinweisen. Die erste Antwort ist selbstverständlich – die Menschen arbeiten, um Geld zu verdienen. Für diejenigen, die die Arbeit als eine Einkommensquelle sehen, ist ein guter Lebensunterhalt das Wichtigste, um ein möglichst bequemes Leben führen zu können – nach der Arbeit. Andere arbeiten, um sich zu entwickeln, ihre Fähigkeiten einzusetzen und Fortschritt im Rahmen der Organisationsstrukturen zu erleben, und somit ihren sozialen Status und Einfluss zu erhöhen. Diese Personen schauen mit einer „Karrierelinse“ auf das Leben. Für die dritte Gruppe ist es wichtig, die eigenen Werte bei der Arbeit zu verwirklichen, teilweise eingeschränkt in Hinblick ihrer Leidenschaften und Interessen. Aber am Ende geht es für manche um die Art der Zufriedenheit und Erfüllung, durch das Kümmern um sich selbst, um andere, weit verstandene Umgebung, möglich sind. Für diese Gruppe ist es relevant, dass die Arbeit ein Sinngefühl hervorruft. Sehr oft ist die Arbeit selbst das Ziel und vermischt sich mit dem Privatleben. Man darf natürlich nicht vergessen, dass die oben genannte Aufteilung in drei Arbeitseinstellungen rein konventionell ist. Hauptsächlich arbeiten wir, um die Bedürfnisse aus allen drei Aspekten zu realisieren. Die Frage ist, welche Bedürfnisse bei welcher Karrierestufe bei den jeweiligen Arbeitnehmern dominieren.
M.H.-J.: Für wen hat das Büro einen größeren Wert? Für Mitarbeiter oder Manager? Für welche Gruppe ist es schwieriger ohne Büro?
D.J.-G.: Ich könnte versuchen, die Frage mit einem Meme zu beantworten, das gerade eine Runde durchs Netz macht:
Sowohl Managern als auch Mitarbeitern kann es schwer fallen nicht im Büro zu arbeiten. Es hängt wohl nicht von der Funktion oder Arbeitsstelle ab, die man erwirbt, sondern von einem weit verstandenen Lebenskontext, in dem wir arbeiten.
M.H.-J.: Das ist noch nicht alles. Wie siehst Du die Zukunft des Büros? Und ich meine hier nicht, ob und inwieweit sich die Arbeitsfläche verändern kann, sondern wie wir es gestalten, einrichten werden? Die Frage ist eher, ob ein solches traditionelles Büro, in das man täglich gefahren ist, noch gebraucht wird? Wie siehst Du das?
D.J.-G.: Dank der Pandemie wurden viele überzeugt, dass sich manche Berufspflichten viel bequemer virtuell realisieren lassen. Viele von uns freuen sich zum Beispiel über weniger lange und unproduktive Treffen im Konferenzräumen. Diese Art von Veränderung wird auf jeden Fall mit uns bleiben. Google und Facebook kündigen zum Beispiel bereits an, dass ihre Mitarbeiter sogar bis 2021 „ferngesteuert“ arbeiten dürfen. Man kann sich jedenfalls sehr schnell an diese Arten der Veränderung gewöhnen, da sie eine technische Dimension haben. Andererseits ist Arbeit etwas mehr als nur Aufgaben abzuhaken. Es gibt Aspekte, die sich schwer in eine virtuelle Umgebung übertragen lassen. Weiterhin fällt uns leichter miteinander zu kommunizieren, Beziehungen und ein gegenseitiges Verständnis sowie Vertrauen im Team zu bilden, wenn wir uns physisch treffen. Sich an eine Veränderung auf tieferem, gesellschaftlichem Niveau anzupassen, wird noch eine Weile dauern. In diesem Sinne denke ich, dass Büros weiterhin gebraucht sind und auch werden, aber vielleicht wird sich deren Funktionsbereich etwas reduzieren oder verändern. Jedoch in einer weit entfernter Perspektive, sobald wir schon anfangen, uns an die Fernarbeit zu gewöhnen, freuden wir uns mit der Technologie an und erarbeiten uns neue Handlungsnormen, werden sich eventuell noch unsere Denkmodelle über Arbeitsformen verändern und schließlich was das für ein traditionelles Büro bedeutet? Schwer vorherzusehen. Zu diesem Zeitpunkt wäre es ideal, wenn die Pandemie zu einer grundsätzlichen Reflexion anregt, warum und wie wir arbeiten.
Daria Jezierska-Geburczyk – Psychologin und Kulturwissenschaftlerin. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit untersucht sie Arten des Arbeitsverstehens. Erworbenes Wissen im Bereich Psychologie und Geisteswissenschaften überträgt sie in die Praxis, indem sie eine Bildungs- und Beratungsaktivität führt.
Myslnik: www.myslnik.com.pl